Auch ein Baby hat ein Recht auf Privatsphäre
«Wir müssen uns schon fragen, was wir dem Kind mitgeben, wenn es vom ersten Moment an auf Fotos inszeniert wird», sagt Pollheimer. «Schon sehr kleine Kinder kommen ins Posen. Ein Kind wird so zum Objekt.» Die Inszenierung störe das kindliche Im-Moment-Sein, die Unbeschwertheit, noch keinen Rollenmustern entsprechen zu müssen. Und ein Baby kann nicht entscheiden, ob es möchte, dass seine ersten Lebensminuten drei Stunden später auf Facebook landen. Für den elterlichen Stolz mag es schön sein, wenn kurz nach der Geburt im Minutentakt Likes und Herz-Emojis von Freunden eintrudeln. Aber: «Auch ein Neugeborenes hat ein Recht auf Privatsphäre», sagt Pollheimer.
Es liege ein grosser Zauber im Moment der Geburt und in der Zeit danach. Dies bewusst und ungestört zu erleben, sich voll und ganz einzulassen auf das Gegenüber, das könne Eltern viel Kraft geben. Pollheimer empfiehlt den Müttern, im Wochenbett ganz aufs Smartphone zu verzichten und Termine über das Handy des Vaters zu kommunizieren. «Wir nennen das auch die ‹Baby-Flitterwochen›. Es ist wie frisch verliebt sein. Da will man auch nicht die ganze Zeit gestört und abgelenkt werden.»
Das smarte Telefon ist aber nicht nur des Teufels. Es bringt Eltern nach der Geburt moralischen Support von Freunden und Familien. Wenn sich Mütter überfordert und allein fühlen und für Anrufe und Besuche die Zeit fehlt, helfen digitale Nachrichten. Apps dokumentieren Stillzeiten und Schlafmuster und machen das Handy zum Babyphone.
Bis in die achtziger Jahre wurden Babys nach der Geburt strikt von ihrer Mutter getrennt. Sie lagen im Säuglingszimmer und wurden nur alle vier Stunden zum Stillen gebracht. Väter durften das Neugeborene nur durch eine Glasscheibe betrachten. Heute sind Bindung und Nähe das A und O im Wochenbett, es gibt es keine Glasscheiben mehr zwischen Eltern und Baby.
Neuerdings nur noch eine kleine Mattscheibe: das Smartphone.
Artikel aus dem Beobachter Familie. Erschienen am 24.10.2019