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28. Oktober 2020

Selfies aus dem Kreisssaal

(shutterstock.com)

Im Kreisssaal wird geknipst, gefilmt, live getickert. Das schadet dem Kind und erschwert den Hebammen und Ärztinnen die Arbeit.

Im Kreisssaal wird geknipst, gefilmt, live getickert. Das schadet dem Kind und erschwert den Hebammen und Ärztinnen die Arbeit.
Wann verpassen wir etwas? Wenn der überwältigende Moment vorbei ist und wir ihn nicht eingefangen haben? Oder wenn wir den Moment nicht ausgekostet haben, weil wir damit beschäftigt waren, den Auslöser zu drücken?
Diesen Fragen müssen sich auch werdende Eltern stellen. Spätestens seit uns der Reflex in Fleisch und Blut übergegangen ist: Wenn etwas Besonderes geschieht, ist das Handy zur Hand. Fotografieren und teilen.

Es ist nicht selten, dass ein Kind um 20.34 Uhr zur Welt kommt und um 20.37 Uhr das erste Mal fotografiert wird. «Wir müssen den Vätern manchmal freundlich, aber mit Nachdruck sagen: Jetzt schauen Sie sich das Kind doch zuerst einmal in Ruhe an. Streicheln Sie es. Nehmen Sie Blickkontakt auf», sagt Bernd Gerresheim, Chefarzt der Geburtshilfe am Basler Bethesda-Spital. «Ein Foto sollte nicht das Erste sein, was man macht.» Natürlich dürfe man den Grosseltern einige Stunden später ein Foto schicken. «Aber ich muss zu den Eltern bisweilen sagen: Das ist jetzt euer Moment!»

«Wir müssen den Vätern manchmal freundlich, aber mit Nachdruck sagen: Jetzt schauen Sie sich das Kind doch zuerst einmal in Ruhe an. Streicheln Sie es. Nehmen Sie Blickkontakt auf.»


Dr. med. Bernd Gerresheim, Chefarzt Geburtshilfe & Pränatalmedizin, Bethesda Spital

Chatten statt reden

Das Handy ist im Gebärsaal angekommen. Zum Leidwesen vieler Hebammen, Ärztinnen und Ärzte. Das Smartphone erschwere die Kommunikation, sagt Gerresheim. Vor allem in der Eröffnungsphase der Geburt, wenn die Frau noch mit Freunden und Verwandten chatte. Manche Mütter tickern quasi live aus dem Gebärsaal, halten das Umfeld auf dem Laufenden über die Wehen, holen sich unterstützende Kommentare. «Wir haben oft nicht die volle Aufmerksamkeit, weil sie mit einem Auge auf Whatsapp-Nachrichten schielen.»

Gerresheim sieht Väter, die in dieser Phase in der Ecke sitzen und mit ihrem Handy spielen oder berufliche Mails beantworten. «Der Partner muss nicht ständig um die Frau herumspringen, ihr den Rücken massieren oder die Hand halten. Aber er sollte da sein, präsent sein.» Am besten wäre es, das Handy zu verbieten, sagt Gerresheim. «Aber ich finde Verbote problematisch.» Lieber setze er darauf, die werdenden Eltern für die Problematik zu sensibilisieren. Allerdings gibt es auch Spitäler, die das Fotografieren und Filmen im Gebärsaal verbieten, Bülach ZH etwa.

Die Eröffnungsphase dauert manchmal Stunden – aber dabei passiert nur vermeintlich wenig, sagt Jessica Pehlke-Milde vom Institut für Hebammen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Auch der Beginn erfordert hohe Aufmerksamkeit. Man sollte nicht die Stunden abwarten, sondern auf Körpersignale achten, je nach Situation aktiv in die Entspannung gehen oder die Wehen aktivieren.»

«Die elektronischen Geräte geben einigen Vätern vielleicht Halt. Sie klammern sich an der Technik fest, zum Schutz vor der Überforderung. Sie fotografieren und filmen, um innere Distanz zum überwältigenden Geschehen zu schaffen.»


Jessica Pehlke-Milde, Institut für Hebammen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Verpasste Erlebnisse

«Man nimmt den Blick eines Reporters des eigenen Lebens ein», schreibt der Zürcher Medienpsychologe Daniel Süss in der Zeitschrift des Hebammenverbands. Dadurch entstehe die Gefahr, dass man bedeutsame Erlebnisse innerlich verpasse und damit auch nur oberflächlich verarbeiten könne. Gleichzeitig zu fotografieren und im Moment präsent zu sein, das gehe nicht. «Multitasking ist eine Illusion: Man kann gar nicht gleichzeitig die volle Aufmerksamkeit an mehreren Orten haben, sondern höchstens schnell den Fokus hin- und herspringen lassen.»

Es gibt sogar Frauen, die bei der Geburt gleich selber fotografieren, etwa die Fotografinnen Lisa Robinson-Ward und Lauren Chenault. Ihre Bilder gingen viral. Auch die deutsche Influencerin Janine Fischer liess sich beim Gebären filmen. Ebenso das Model Lisa d’Amato: Sie streamte live auf Facebook, wie ihr Kind zur Welt kam. In der Schweiz sind noch keine solchen Fälle bekannt.

Die Geburt ist ein höchst intimer Moment – «ein Ereignis, das geschützt werden muss», sagt Professorin Pehlke-Milde. «Und ich weiss nicht, ob es richtig ist, wenn Kinder später ihre eigene Geburt anschauen können.» Hebammen fühlten sich durch Filmaufnahmen stärker überwacht, hätten mehr Angst, Fehler zu machen und später dafür eingeklagt zu werden. Das wirkt nicht entspannend auf die Atmosphäre im Gebärsaal.

«Die Geburt ist ein höchst intimer Moment – ein Ereignis, das geschützt werden muss. Und ich weiss nicht, ob es richtig ist, wenn Kinder später ihre eigene Geburt anschauen können.»


Jessica Pehlke-Milde, Institut für Hebammen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Das Handy während der Geburt sei bei Frauen nur ein Thema, wenn sie eine Periduralanästhesie erhalten, sagt Andrea Pollheimer, Hebamme aus Riehen BS. Ohne die Schmerzunterdrückung habe eine Frau keine Kapazität, sich mit einem Gerät zu beschäftigen. Während der aktiven Pressphase ohnehin nicht. «Da sind so gewaltige Naturkräfte am Werk, dass da keine Zeit dafür bleibt», sagt Chefarzt Gerresheim.

Beunruhigend ist für Fachpersonen auch die Nutzung des Handys im Wochenbett. Man sollte auch mal offline gehen, «um ganz verfügbar zu sein für die eigenen Empfindungen und für die Bedürfnisse der anwesenden Personen», schreibt Medienpsychologe Daniel Süss. Intimität sei nicht möglich, wenn man gleichzeitig auf digitalem Empfang stehe.

«Das Neugeborene drückt seine Bedürfnisse durch eine Kaskade von feinen Zeichen aus», sagt Hebamme Pollheimer. Wenn es Hunger habe, bewege es etwa den Kopf, mache kleine Schmatzgeräusche. Da gelte es, die Wahrnehmung zu schärfen und die Sinne aufmerksam auf das Kind zu richten, «damit man nicht erst das letzte Hungerzeichen hört: das Schreien.»

«Neugeborene brauchen Aufmerksamkeit, alles andere schadet ihrer Bindungsfähigkeit. Sie sind den erwachsenen Bezugspersonen vollständig ausgeliefert und davon abhängig, dass die Mutter ihre Signale wahrnimmt, richtig interpretiert und prompt reagiert. Wenn die Mutter physisch anwesend, aber durch das Smartphone abgelenkt ist, werde das Kind verunsichert.»


Andrea Pollheimer, Hebamme

Auch ein Baby hat ein Recht auf Privatsphäre

«Wir müssen uns schon fragen, was wir dem Kind mitgeben, wenn es vom ersten Moment an auf Fotos inszeniert wird», sagt Pollheimer. «Schon sehr kleine Kinder kommen ins Posen. Ein Kind wird so zum Objekt.» Die Inszenierung störe das kindliche Im-Moment-Sein, die Unbeschwertheit, noch keinen Rollenmustern entsprechen zu müssen. Und ein Baby kann nicht entscheiden, ob es möchte, dass seine ersten Lebensminuten drei Stunden später auf Facebook landen. Für den elterlichen Stolz mag es schön sein, wenn kurz nach der Geburt im Minutentakt Likes und Herz-Emojis von Freunden eintrudeln. Aber: «Auch ein Neugeborenes hat ein Recht auf Privatsphäre», sagt Pollheimer.

Es liege ein grosser Zauber im Moment der Geburt und in der Zeit danach. Dies bewusst und ungestört zu erleben, sich voll und ganz einzulassen auf das Gegenüber, das könne Eltern viel Kraft geben. Pollheimer empfiehlt den Müttern, im Wochenbett ganz aufs Smartphone zu verzichten und Termine über das Handy des Vaters zu kommunizieren. «Wir nennen das auch die ‹Baby-Flitterwochen›. Es ist wie frisch verliebt sein. Da will man auch nicht die ganze Zeit gestört und abgelenkt werden.»

Das smarte Telefon ist aber nicht nur des Teufels. Es bringt Eltern nach der Geburt moralischen Support von Freunden und Familien. Wenn sich Mütter überfordert und allein fühlen und für Anrufe und Besuche die Zeit fehlt, helfen digitale Nachrichten. Apps dokumentieren Stillzeiten und Schlafmuster und machen das Handy zum Babyphone.

Bis in die achtziger Jahre wurden Babys nach der Geburt strikt von ihrer Mutter getrennt. Sie lagen im Säuglingszimmer und wurden nur alle vier Stunden zum Stillen gebracht. Väter durften das Neugeborene nur durch eine Glasscheibe betrachten. Heute sind Bindung und Nähe das A und O im Wochenbett, es gibt es keine Glasscheiben mehr zwischen Eltern und Baby.

Neuerdings nur noch eine kleine Mattscheibe: das Smartphone.

Artikel aus dem Beobachter Familie. Erschienen am 24.10.2019